
Seit der vergangenen Saison spielt Moritz Stephan die Titelrolle bei den Störtebeker Festspielen auf der Naturbühne Ralswiek auf Rügen. Er kann dabei auch seine Fähigkeiten im Reiten, Bühnenkampf und Fechten zeigen. „Wie alle meine Vorgänger muss ich meine persönliche Interpretation des Klaus Störtebeker finden. Dabei bin ich immer noch ein wenig auf der Suche“, sagt der 33-jährige, der bis Anfang September in „Gotland unter Feuer“, der diesjährigen Episode, zu erleben ist.
Ein Pirat ohne sein Schiff? Schwer vorstellbar. Tatsächlich sind auf dem Werbeplakat für die Störtebeker Festspiele 2023 mit Moritz Stephan in der Titelrolle und Alexander Hanfland als sein Freund Goedeke Michels drei Schiffe unter vollen Segeln zu sehen. Ein Pirat ohne sein Pferd? Zumindest im Fall Klaus Störtebekers gehören der eine und das andere ebenfalls zusammen. Seit sie begannen, gemeinsam zu arbeiten, sind Moritz Stephan und der schwarze Friesenhengst „Vulcano“ ein eingespieltes Team geworden. In vielen Szenen ist der Schauspieler, der seit letztem Jahr auf der Naturbühne Ralswiek die Rolle des berühmten Seeräubers spielt, auf dem Rücken des Rappen zu erleben. „Er ist ein echtes Bühnenpferd, das im Scheinwerferlicht zur Hochform aufläuft“, erzählt Stephan. Als das Tier zwischenzeitlich huflahm wurde und sich regenerieren musste, bekam der Akteur ein junges Pferd einer anderen Rasse als Ersatz, „Vallen-Jemal“. Dieses war naturgemäß anfangs noch nicht mit den Bühnenabläufen vertraut, konnte nach einer Weile die Rolle von „Vulcano“ aber gut ausfüllen.
Reiten zu können, ist eine Schlüsselfertigkeit für jeden Schauspieler, der in die Rolle des Störtebeker bei den gleichnamigen Festspielen schlüpfen möchte. Als Moritz Stephan vor dem Beginn der letzten Saison die Nachfolge seines Kollegen Alexander Koll in der Titelpartie antreten wollte, musste er sich zunächst schriftlich bei dem Familienunternehmen Störtebeker Festspiele GmbH bewerben. Ruth Hick, die gemeinsam mit ihrer Tochter Anna-Theresia die Geschäftsführung innehat, beorderte den Bewerber zunächst zum Vorreiten aufs Festspielgelände. „Mehr als drei Viertel aller Männerrollen im Stück sitzen einen großen Teil der Zeit auf dem Pferd. Daher muss man als Reiter glaubwürdig sein, besonders natürlich in einer tragenden Rolle“, begründet Moritz Stephan dies. Sein Äußeres und seine sportlichen Fähigkeiten – neben Reiten unter anderem Bühnenkampf, Fechten, Kickboxen und Klettern – kannte das Leitungsteam, zu dem noch der Intendant Peter Hick gehört, bereits aus seinem Profil. Dass ihm dieses einige Türen geöffnet hat, ist Moritz Stephan bewusst: „Einen Schauspieler zu finden, der reiten und kämpfen kann und auf der Bühne präsent ist – das ist nicht so einfach.“ Dennoch war er erleichtert, als es nach dem Vorreiten hieß: „Willkommen in der Familie.“
Nach der Zusage ging es für den Schauspieler folgerichtig also vor der eigentlichen Probenzeit erst einmal darum, sich körperlich vollkommen fit für die Rolle zu machen. Er begann mit gezieltem Training, um Muskelmasse und Kondition aufzubauen, stellte sich einen besonderen Speiseplan zusammen und absolvierte zwei Einzelunterrichtseinheiten zu Pferd. Für die reiste er extra von seinem Wohnort Dresden – wo er bis dato zum Ensemble des „Theaters der Jungen Generation“ gehört hatte – nach Rügen. Bei den eigentlichen Proben ab Mai waren in den ersten drei Wochen für ihn täglich Reitstunden den Vorbereitungen auf der Bühne vorgeschaltet. Moritz Stephan schaute sich dabei auch von anderen Reitern und professionellen Stuntmen Tricks ab. Ab April las er sich parallel in seine Rolle ein. „Das echte Auswendiglernen kommt erst später, weil in den sechs Probenwochen noch viel umgestellt wird.“ Auch wenn Klaus Störtebeker am Stück maximal jeweils sechs Zeilen spricht – der Text muss natürlich sitzen. Die zwei Stunden Vorstellung, die in der Saison von Ende Juni bis Anfang September täglich außer sonntags auf dem Programm stehen, sind trotz der übersichtlichen Textmenge schwere Arbeit. „Man sollte, wie gesagt, körperlich fit sein, aber auch geistig: Wenn zum Beispiel mal ein Pferd krank ist, ändert sich nicht selten die gesamte Aufstellung. Da wir auf einer Freilichtbühne spielen, müssen wir uns stets auf das jeweilige Wetter einstellen. Auch fliegende Vögel können ein Störfaktor sein. Flexibles Reagieren ist immer gefragt.“
Während der letzten Saison, in der Moritz Stephan in der Episode „Im Angesicht des Wolfes“ agierte, und in den ersten Wochen der diesjährigen Spielzeit mit „Gotland unter Feuer“ hat der 33-jährige Sachse für sich eine tägliche Routine entwickelt: An den Spieltagen verlässt er kurz vor halb sieben sein Apartment auf dem Gelände, wo er mit Lebensgefährtin und Sohn „über den Pferdeställen“ wohnt, wie die meisten seiner Kollegen. Pünktlich um 18.30 Uhr sitzt er in der Maske, legt danach sein schweres Lederkostüm an, was fast eine halbe Stunde dauert. Dann geht er zu seinem Pferd, macht dabei ein wenig die Stimme warm. Dank kleiner Mikrofone müssen die Schauspieler auf der Bühne nicht schreien, um vom Publikum – auf das Gelände passen bis zu 8.000 Zuschauer – gehört zu werden. „Fünf vor acht schwinge ich mich dann in den Sattel und starte mit dem „Nebelritt“ meinen ersten Auftritt an dem jeweiligen Abend.“ Die Vorstellung beginnt acht Uhr und dauert mit einer Pause bis 22.30 Uhr. Danach folgt ein eindrucksvolles Feuerwerk vor dem meist schon dunklen Himmel.
Moritz Stephan reiht sich mit seiner Interpretation des Piraten, der den Reichen nahm, um den Armen zu geben, unter mehreren Vorgängern ein. Die Störtebeker Festspiele gibt es seit 1993. Sie setzen in gewisser Weise eine Tradition aus der DDR fort. Denn man führte seit den 50-er Jahren auf der Naturbühne die „Dramatische Ballade von Klaus Störtebeker“ auf, die der Dichter Kurt Barthel geschaffen hatte. Unter den Kollegen, die der junge Darsteller in seiner Rolle erlebt hat, beeindruckten ihn besonders Norbert Braun, der den Störtebeker als klassischen Helden gestaltete, und Sascha Gluth mit seiner humorvollen Note. Doch Stephan muss „seinen eigenen Helden finden“, wie er es formuliert. „Dabei bin ich immer noch ein wenig auf der Suche und entdecke stets neue Nuancen.“ Seinen Störtebeker hat er als ausgewogene Persönlichkeit angelegt, die schnell denken und sich einen Überblick über die Lage verschaffen kann, humorvoll, aber auch ernst und verantwortungsbewusst ist. In der kommenden Saison wird er dies bei einem erneuten Vier-Monate-Vertrag weiter vertiefen können. Darauf freut er sich schon, auch wenn er weiß, dass seine Figur der Historie gemäß in dieser Episode geköpft wird. Die Geschichte des Piraten bei den Festspielen ist seit 1993 in Abschnitte eingeteilt, die jeweils mehrere Jahre seines Lebens umfassen. Diese Abschnitte ergeben einen Zyklus. Der momentane Zyklus endet mit dem Stück des Jahres 2024. Danach beginnt die Geschichte neu. „Ich wünsche mir sehr und bin zuversichtlich, dass ich auch im kommenden Zyklus die Rolle des Klaus Störtebeker spielen und damit in die Fußstapfen von Norbert Braun und Sascha Gluth treten kann“, sagt Moritz Stephan mit Blick auf die Zukunft.
