Medikamentenmangel und Pflegenotstand. Krankenhäuser am finanziellen Limit. Die Insolvenzwelle rollt. Die hausärztliche Versorgung nähert sich mancherorts dem Zusammenbruch. Facharzt-Termine werden für gesetzlich Versicherte zur Rarität. Niedergelassene Mediziner treten auf die Bremse, weil ihre Leistungen nicht vollständig bezahlt werden. Doch wichtiger als energische Schritte gegen diese Misere scheint Bundesgesundheitsminister sein umstrittenes Transparenzgesetz zu sein. Deutschlands Gesundheitswesen müsse dringend vom Kurs in Richtung Kollaps abgebracht und stabilisiert werden, fordert der gesundheitspolitische Experte Frank Rudolph, Geschäftsführer des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit (BVVG). Er warnt vor Übereifer und Aktionismus im Gesundheitsministerium.
Frank Rudolph führt weiter aus: "
Treffen sich zwei Ärztinnen bei einer Mediziner-Demo: "Was wird 2024 für ein Jahr im Gesundheitswesen", fragt die eine. "Na, so ein mittleres", erwidert ihre Kollegin. "Schlechter als 2023, aber besser als 2025." Natürlich ist das Sarkasmus pur im Angesicht der Abwärtsspirale, in die unser Gesundheitswesen hineinmanövriert wurde. "Humor ist, wenn man trotzdem lacht", meinte einst Otto Julius Bierbaum. Doch bei der Betrachtung der gesundheitspolitischen Misere in unserem Land könnte Patientinnen und Patienten ebenso wie Beschäftigten in Kliniken und Praxen das Lachen bald im Hals stecken bleiben.
Die Liste der Missstände und ungelösten Problem ist mittlerweile so umfangreich, dass man fragen muss, ob Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) noch weiß, was er tut und wofür er die politische Verantwortung zu tragen hat. Vor lauter neuen Projekten - angekündigte ebenso wie in Angriff genommene und dann ins Stocken geratene - könnte man meinen, der Professor habe im Schaffensrausch den Überblick verloren: Von der Krankenhaus- und der Notfallreform über das Gesundheitsversorgungsgesetz, die Digitalgesetze sowie die unselige Cannabis-Legalisierung und die staatliche Hitzeberatung bis zu den umstrittenen Gesundheitskiosken. Im Übereifer scheint dem selbsternannten Retter des deutschen Gesundheitswesens der Blick für schwerwiegende akute Probleme abhandengekommen zu sein.
Gravierender Medikamentenmangel - wurden Angaben geschönt?
Fangen wir bei A wie Apotheken an: "Der Medikamentenmangel in Deutschland ist offenbar dramatischer als angenommen", meldete das "Handelsblatt" am 11. Januar unter Berufung auf die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA). Die Engpässe würden im Versorgungsalltag der Apotheken weit über das hinausgehen, was offiziell gemeldet werde, warnte der Verband.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte listete bei rund 500 Medikamenten Lieferengpässe auf. Den offiziellen Angaben zufolge sind das ähnlich viele wie vor einem Jahr. Wer erwartet hatte, dass im Bundesgesundheitsministerium (BMG) Schlussfolgerungen aus diesen Lieferproblemen gezogen und rechtzeitig Maßnahmen für Versorgungssicherheit im Winter 2023/24 getroffen wurden, sieht sich enttäuscht. Schlimmer noch: Die Mängelliste des Bundesinstituts ist wohl geschönt: "In Wirklichkeit sind es einige Tausend Medikamente, die nicht zu bekommen sind", sagte Thomas Preis, Vorstandsvorsitzender des Apothekerverbands Nordrhein, laut "Handelsblatt".
Apotheken ohne Apotheker oder Apothekerinnen?
Längst nicht allein die Lieferengpässe machen den noch fast 18.000 Apotheken in Deutschland zu schaffen. Mindestens ebenso große Sorgen bereiten die Folgen der von Lauterbach geplanten Apothekenreform. Sie ist kaum etwas anderes als ein weiteres als "Reform" verbrämtes Sparprogramm.
Dazu gehört unter anderem die abenteuerliche Vorstellung, dass Medikamente in Apotheken auch dann ausgegeben werden sollen, wenn eine sachkundige Beratung nicht mehr persönlich vor Ort, sondern lediglich durch eine digital zugeschaltete approbierte Fachkraft möglich ist. Es sei "gefährlich und die Versorgung der Menschen wenig wertschätzend, wenn unsere Patientinnen und Patienten in Apotheken versorgt werden sollen, in denen keine Apothekerinnen und Apotheker mehr arbeiten", warnte ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening in ihrer Videobotschaft zum Jahresstart 2024.
"Die Pflege entwickelt sich zur Kosten-Bombe"
Besorgniserregender als die Probleme der Apotheken stellt sich allerdings der Pflegenotstand dar. In weiten Teilen der älteren Bevölkerung geht die Angst um, in die Armut getrieben zu werden, wenn eines Tages der Umzug ins Pflegeheim nicht mehr abzuwenden sein sollte.
"Die Pflege entwickelt sich zur Kosten-Bombe", warnte die "Bild"-Zeitung. "Wer den Lebensabend erreicht hat, darf nicht von Finanzsorgen gequält werden. Pflegebedürftige müssen sich darauf verlassen können, dass sie umsorgt werden - und niemandem zusätzlich (finanziell) zur Last fallen."
Diese Erwartung ist nur allzu verständlich. Die Hoffnung, dass sie erfüllt werden könnte, wurde genährt, als die rot-grün-gelbe "Fortschrittskoalition" vor mehr als zwei Jahren ihren Koalitionsvertrag vorstellte. Einer Explosion der Pflegekosten wollte die Ampel erklärtermaßen entgegenwirken. Getan hat sich leider wenig bis nichts. Dabei weisen Experten seit langem darauf hin, dass rechtzeitige Vorsorge vor Pflege-Armut unablässig ist, unter anderem durch zusätzliche private Versicherungen. Doch für den Sozialdemokraten Lauterbach ist alles kapitalistisches Teufelszeug, was nicht staatlich, sondern irgendwie "privat" ist. Nur dass der Staat nicht weiß, wo er das Geld herbekommen soll. Die Folgen eines nach wie vor fehlenden Konzepts für eine ausreichende Pflege-Finanzierung sind schlimm. Der Arbeitgeberverband Pflege (AGVP) läutete die Alarmglocken: Bis Mitte Dezember 2023 seien deutschlandweit beinahe 800 Insolvenzen und Schließungen in der Altenpflege verzeichnet worden. Eine "Generalüberholung der Vergütung von Pflegeleistungen" sei überfällig.
"2023 mussten täglich zwei Pflegeeinrichtungen Insolvenz beantragen oder schließen. Jede Insolvenz bedeutet eine tiefe Verunsicherung für Pflegebedürftige, sowohl in ambulanter Betreuung als auch in Pflegeheimen", erklärte AGVP-Präsident Thomas Greiner, wie das "Ärzteblatt" berichtete. Das seien "keine unkontrollierbaren Naturkatastrophen, sondern das gemeinsame Resultat der Pflegepolitik der letzten Jahre und der Verantwortungslosigkeit der Pflegekassen". Er fügte hinzu: "Wenn die altenpflegerische Versorgung für die kommenden Jahrzehnte erhalten werden soll, muss die Politik aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen."
Verärgerte Fachärzte - Mogelpackung bei der Entbudgetierung
Einen Lichtblick in der Krise des deutschen Gesundheitswesens schien es inzwischen immerhin für die Hausärztinnen und Hausärzte zu geben. Nach wiederholten Praxis-Streiks und Straßenprotesten versprach Lauterbach ihnen nun, dass die Deckelung der Vergütung ihrer Leistungen für gesetzlich Versicherte aufgehoben wird. In Aussicht gestellt hatte die Ampel das bereits im Koalitionsvertrag. Wie das genau aussehen, berechnet und umgesetzt wird, ließ Lauterbach allerdings offen. Damit bleibt er seiner Taktik treu, pompöse Ankündigungen zu machen und die Klärung der Details auf später zu verschieben.
Budgetierung bedeutet nichts anderes, als dass einer ganzen Berufsgruppe nur ein Teil der erbrachten Leistung bezahlt wird. Das ist - einfach gesagt - so, als würde jemand beim Bäcker zehn Brötchen bestellen, aber nur acht bezahlen. Seit Jahren ist dieser Zustand, mit dem die Kosten der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) eingedämmt werden sollen, ein Streitpunkt zwischen Politik und Ärzteschaft. Nun soll damit für die Hausärzte Schluss sein, ähnlich wie zuvor bei den Kinder- und Jugendärzten.
Niedergelassene Fachärzte wollen Proteste fortsetzen
So begrüßenswert das ist, von einer umfassenden Entbudgetierung kann längst keine Rede sein. Die Forderung, auch für die niedergelassenen Fachärzte die Deckelung zu streichen, lehnte der Minister ab. Die würden schon genug verdienen und im Übrigen fehle das Geld dafür. Für die Streichung des Hausarzt-Deckels würde es wohl noch geradeso reichen. Die kostet die Beitragszahlenden der GKV Experten zufolge die vergleichsweise geringe Summe von rund 100 Millionen Euro im Jahr. Eine Aufhebung für alle Arztgruppen würde den Schätzungen zufolge hingegen rund drei Milliarden Euro im Jahr kosten.
Kein Wunder, dass der Virchow-Bund Lauterbachs kalte Schulter für die niedergelassenen Fachärzte scharf kritisiert. Verbandschef Dirk Heinrich: "Wir beobachten, dass die Wut an der Basis weiter steigt. Daher ist für uns klar, dass die Proteste weitergehen müssen."
Konkreten Fragen zur Finanzierung seines Versprechens an die Hausärzte sei Lauterbach ausgewichen, kritisierte der gesundheitspolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Tino Sorge (CDU). Er sprach von einem "Gipfel der Ankündigungen und Durchhalteparolen". Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) sagte Sorge: "Für zehntausende Arztpraxen in Deutschland bleibt außer vagen Versprechungen wenig Handfestes."
Kranke Krankenhäuser - die Insolvenzwelle rollt
Kein bisschen optimistischer klingt die aktuelle Lageeinschätzung der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). "Zu Beginn des neuen Jahres stehen wir beinahe an derselben krankenhauspolitischen Stelle wie im Januar 2023", konstatierte die Interessenvertretung der deutschen Kliniken nach einem Jahr weitgehend unerfüllter Forderungen an das BMG. "Die Krankenhäuser leiden unter der Inflation, so viele wie nie zuvor mussten bereits Insolvenz anmelden, zahlreiche Kliniken haben 2023 mit seinen wirtschaftlichen Zumutungen überhaupt nicht überlebt."
Nach großspurigen Ankündigungen aus dem Hause Lauterbach überwiegen inzwischen auch bei den Krankenhäusern Ernüchterung und Enttäuschung: "Nach wie vor schaut die Politik dem Krankenhaussterben zu. Der Inflationsausgleich, den die Krankenhäuser seit 2022 fordern, ist noch immer nicht in Aussicht", klagt die DKG.
Für Lauterbachs größtes Vorhaben, eine umfassende Struktur- und Finanzierungsreform der Krankenhäuser, fehle immer noch ein konsensfähiger konkreter Gesetzentwurf. Viel Zeit sei "durch die Auseinandersetzung des Bundesministers mit seinen Länderkolleginnen und -kollegen" verstrichen.
Während die Insolvenzwalze sich weiter dreht, stockt die Krankenhausreform, weil Lauterbach den durchaus berechtigten Forderungen der Länder nicht nachkommen will. Die Folge ist eine "kalte Strukturbereinigung". Der Minister nimmt sie anscheinend sehenden Auges in Kauf. Frei nach dem Motto: Je mehr es weh tut, desto eher werden die Länder einlenken.
Die Länder sollen schuld sein
Derweil bemüht sich Lauterbach in den öffentlichen Debatten, den Ländern die Schuld zuzuschieben. Sie würden sein sogenanntes Transparenzgesetz blockieren und damit die Krankenhausreform auf Eis legen. Das ist nicht einfach nur falsch, es ist auch geradezu heuchlerisch. Denn beim Transparenzgesetz geht es nur vordergründig darum, Patienten und Patienten eine bessere Möglichkeit zu geben, die für sei am besten geeignete Klinik zu finden.
Vielmehr handelt es sich um einen Versuch, die Kompetenzen und Entscheidungsbefugnisse der Länder bei der Krankenhausplanung zu beschneiden und durch zentralstaatliche Vorgaben zu ersetzen. Mit Hilfe des Transparenzgesetzes will Lauterbach den Krankenhausstandorten von Berlin aus Leistungsgruppen zuweisen lassen - und zwar zwei Jahre früher als die Länder im Rahmen ihrer Planungen auf der Basis der anvisierten Reform selbst tätig werden könnten. Dass sich mehrere Länder - nicht allein unionsgeführte - dagegen wehren, ist keine "Blockadehaltung", sondern der Versuch einen Ideologie-getriebenen Umbau der Krankenhauslandschaft zu verhindern, der auf eine Verschlechterung der medizinischen Versorgung hinauslaufen würde.
DKG: Ringen um Transparenzgesetz nicht zulasten der Krankenhäuser
Die Forderung der DKG: "Wenn der Bund gegenüber den Ländern beim Transparenzgesetz nicht zu Kompromissen bereit ist und keine Einigung zustande kommt, darf das nicht zulasten der Krankenhäuser gehen. Wir brauchen jetzt schnelle Entscheidungen, die die Versorgungssicherheit für die Patienten auch in den kommenden Monaten gewährleisten ... Hier trägt die Politik eine große Verantwortung."
Dass sie ihr gerecht wird, darf angesichts des insgesamt eher hektischen Agierens dieses Ministers bezweifelt werden. Vielmehr weitet sich das Chaos in der deutschen Gesundheitspolitik immer mehr aus. So mancher fragt sich, ob unser Gesundheitswesen vor dem Kollaps steht - beziehungsweise wie weit es davon noch entfernt sein mag.
Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen am Limit, die Insolvenzwelle rollt, die hausärztliche Versorgung kurz vor dem Zusammenbruch, die Versorgung in der Fläche ist schon heute nicht mehr gewährleistet, Fachärzte vergeben immer weniger Termine, da sie ihre Leistungen zum Teil nicht bezahlt bekommen. Doch für Lauterbach scheint es scheint kein dringenderes Anliegen zu geben, als sein umstrittenes - und weitgehend überflüssiges - Transparenzgesetz durchzuboxen.
Hat sich da ein übereifriger Ideologe verrannt? Hat Lauterbach in übersteigertem Ehrgeiz einfach zu viele Baustellen gleichzeitig aufgemacht? Derzeit "kumulieren sich alle Vorhaben", räumte Michael Weller ein, Leiter der Abteilung 2 "Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung" im BMG. "Uns läuft die Zeit davon", sagte er bei einem Symposium der Gesellschaft für Recht und Politik im Gesundheitswesen (GPRG), wie das "Deutsche Ärzteblatt" berichtete. Ziel sei es, bis zum 24. April möglichst viele Gesetze im Bundeskabinett verabschieden zu lassen. Denn Gesetze, die bis dahin nicht vom Ampel-Kabinett abgesegnet wurden, könnten nicht mehr bis zum 1. Januar 2025 in Kraft treten.
Wo das Geld für all die Vorhaben herkommen soll, steht freilich in den Sternen. Solidität und Verlässlichkeit geht anders. Lauterbachs leichtsinniges Agieren erinnert an Goethes "Zauberlehrling". Auch der Minister könnte inzwischen gut und gern ausrufen "Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd' ich nun nicht los." Bei Goethe macht bekanntlich der Hexenmeister dem Spuk ein Ende. Doch der "Hexenmeister" der Ampelregierung, Bundeskanzler Olaf Scholz, lässt seinen "Zauberlehrling" und Parteifreund gewähren - trotz wiederholter Appelle und Proteste der Ärzteschaft und der Krankenhäuser, die von Scholz ein Eingreifen fordern. Wie wie lange noch?
Der Autor: Frank Rudolph (Jahrgang 1960) ist mit der Kalkulation und Abrechnung medizinischer Leistungen seit vielen Jahren vertraut. Als Geschäftsführer des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit e.V. (BVVG) kennt er die Folgen gesundheitspolitischer Weichenstellungen in Bund und Ländern für die medizinische Versorgung der Bevölkerung - insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses von Kosten und Nutzen. Der in Essen geborene Betriebswirt ist Mitglied der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU. Von 2007 bis 2013 war Rudolph Mitglied der Bundeskommission Gesundheit. Seit 2007 ist er 1. stellvertretender Vorsitzender des Gesundheitspolitischen Arbeitskreises der CDU NRW."